von Joe Romanski
Wow! Was für ein Anblick! Schon ein Vulkan ist ja gewöhnlich ziemlich eindrucksvoll; in diesem Fall erheben sich jedoch gleich zwei aus der weiten grau-blauen Wasserfläche, und auf beiden sitzt als Krone eine weiße, diskusförmige Wolke.
Vor mir liegt Ometepe, die weltweit größte Insel in einem Binnensee. Der See wiederum ist der Lago de Nicaragua, der – blickte man von einem Satelliten auf die schmale Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika hinunter – dort ein riesiges Loch bildet. Bis in die 1990er Jahre tauchte Nicaragua noch regelmäßig in den Medien auf, wenn auch weniger wegen seiner tollen Natur. Es waren eher die Diktatoren und Bürgerkriege, die für die Schlagzeilen sorgten. Dann kam die Demokratie und mit ihr die Backpacker, bei denen das Land noch bis vor ein paar Jahren als eine Art Geheimtipp galt: relativ gut funktionierende Infrastruktur, weitgehend sicher, touristisch dagegen fast unerschlossen. Doch der die Touris ins Land wehende Wind ist in den letzten Jahren deutlich stärker geworden; wie die Pilze im Regenwald sind die Hotels und Restaurants an den entsprechenden Hotspots aus dem Boden geschossen, wenn auch meist nur in einem vergleichsweise bescheidenen und oft provisorischen Stil.
Kein Vergleich mit dem reichen Nachbarn Costa Rica, die als „Schweiz Mittelamerikas“ bei vielen Nicaraguanern immer noch Minderwertigkeitsgefühle auslöst. Dementsprechend ist der Kutter, mit dem wir zur Insel übersetzen, auch ein klassisches Dritte-Welt-Gefährt: mindestens 50 Jahre alt wird er hauptsächlich von den vielen Farbschichten zusammengehalten; und so wie er sich durch die fast meterhohen Wellen kämpft (auf dem See herrscht ständig eine ziemlich steife Brise) scheint es keinesfalls sicher, dass wir die knapp 10 km bis Ometepe wirklich schaffen. Doch im gleichen Maße wie die Vulkane größer werden, werden die Wellen schließlich kleiner, und als ich im Hafen von Moyogalpa von der Fähre klettere, komme ich mir vor wie Indiana Jones in Minute 10 seiner Filme: Jetzt gehts los!
Schuld am Gefühl sind die beiden Bergkegel, die nun – obwohl der eine durch die Entfernung vergleichsweise harmlos wirkt – ganz und unmittelbar da sind. Ihre Präsenz kreiert ein unsichtbares, doch gleichwohl sehr fühlbares Kraftfeld, das das gesamte Sein hier auf der Insel bestimmt. Zur Entstehung gibts übrigens eine schaurige Romeo-und-Julia-Legende, in der die beiden Protagonisten Nagrando und Ometeptl heißen und sozusagen riesenhafte Riesen waren. Denn die beiden Vulkane sollen die Brüste der toten Ometeptl sein, die durch eigene Hand in einem See aus Blut starb, das sich später in Wasser verwandelte. Mit dem Taxi gehts weiter.
Ziel ist Inanitah, eine Art Yoga- und Meditationsresort am Fuße des entfernteren, südlich gelegenen Vulkans Maderas. Der ist energetisch betrachtet eigentlich eine Sie, während der etwas höhere Concepción (1610 m) den männlichen Pol bildet. Dieser gilt als noch aktiv, auch wenn der letzte große Ausbruch schon ein paar Jahrzehnte zurückliegt. Je mehr wir uns dem Maderas nähern, desto schlechter wird die Straße. Am Ende sind die Huckel und Löcher so groß, dass ich mich an die Wellen eine halbe Stunde zuvor erinnert fühle. Irgendwann kommt man dann nur noch mit einem Jeep weiter, und da das Taxi keiner ist, bedeutet das für den letzten Kilometer bergauf: Fußmarsch. Durchgeschwitzt und schweratmend erreiche ich mit meinen 35 Kilo Gepäck (inkl. großzügigem Zelt) eine weitere halbe Stunde später das „earth-based spiritual community and transformational living and learning center“, wie Inanitah auf der gleichnamingen Com-Webseite etwas umständlich beschrieben wird.
Geschafft! Nach einer angemessenen Erholungspause und der Begrüßung durch Rachel, einer energischen Kanadierin, die in der kleinen Crew für die Volunteers bzw. Workexchangers zuständig ist, schaue ich mich um: Das „Center“ entpuppt sich als ein mehrere Hektar großes Gelände aus Wald, Garten und wiesenartigen Freiflächen, auf dem verstreut ein paar Gebäude stehen: die Küche (in der auch gegessen wird), ein kleiner Rundbau für Yoga und Meditationen (der „Tempel“), das Gemeinschaftshaus (das eigentlich ein „Internet-Café“ ist)… dazu ein paar Hütten als Unterkünfte – alle halboffen und in traditioneller Lehmstrohbauweise. Die Architektur spiegelt die Philosophie wieder: so natürlich und tradionell wie möglich – was sich unter anderem auch an den Sanitäranlagen zeigt, die für zivilisationsverwöhnte Westler, vorsichtig formuliert, etwas gewöhnungsbedürftig sind. Immerhin gibts aber seit zwei Jahren fließend Wasser aus dem Wasserhahn; das kommt von der Schwerkraft angetrieben durch ein Rohrsystem direkt aus einer Quelle aus dem Berg oberhalb der Finca.
Ich frage die „Chefin“ Gaia, wie Inanitah entstanden ist.“Mit Anfang 20 war ich ein typisches Manhattan Party Girl“, erzählt die nun Vierzigjährige, die mit ihren Dreadlocks und dem yoga-gestählten Körper wie ein moderner Asket wirkt. „Ich studierte `Gender & Sexuality` an der New York University und war auf eine akademische Karriere aus. Gleichzeitig war ich aber so unglücklich, dass ich nach einem Ausweg suchte. Der hieß damals Tantra und Yoga.“ Es folgte der typische Transformationsweg mit jeder Menge Kurse und Seminare all over the world, hauptsächlich jedoch in der Osho-Tradition. Nach ihrer Ausbildung zur Skydancing-Tantra-Lehrerin (eine Variante des westlich geprägten, sogenannten Neo-Tantra) traf sie in Thailand 2004 schließlich den deutschen Permakultur- und Naturalbuilding-Spezialisten Paul, der wie sie auf der Suche nach Alternativen zur westlichen Lebenskultur war. Beide waren sich schnell darüber einig, dass wirkliche Veränderungen in der Welt nur möglich sind, wenn man die persönliche spirituelle Entwicklung mit dem Ökologie-Gedanken vereint.
So entstand das Konzept des „Tantra of Permaculture“, ein Begriff, der auf die amerikanische „Earth-Aktivistin“ Mary DeDanan zurückgeht: „Wenn die industriell betriebene Landwirtschaft (mit ihren Traktoren, Monokulturen und Pestiziden) eine Vergewaltigung der Erde darstellt, und wenn man den Bio-Anbau als einvernehmlichen Sex sieht, dann ist Permakultur die ekstatisch-tantrische Vereinigung mit ihr.“Folgerichtig gibt es in Inanitah nicht nur Kurse für den Geist (Tantra, Meditation und Yoga), sondern durchaus auch Handfesteres, wie Natural Building oder Massage.Doch die eigentliche Qualität des Ortes – so bemerke ich bald – liegt weniger in der Philosophie und den Angeboten (das auch) – es sind ganz wesentlich die beiden Vulkane, die den Besucher jeden Tag aufs Neue beeindrucken und herausfordern – körperlich und energetisch. Das wird einmal mehr deutlich als wir mit einer kleinen Gruppe zum Krater des in unserem Rücken gelegenen Maderas hinaufsteigen. Mit einer Höhe von knapp 1400 Metern und einer Wegstrecke von ein paar Kilometern hält sich die physische Herausforderung meist in Grenzen.
Ein echtes Abenteuer wird der Marsch erst ein paar hundert Höhenmeter unterhalb des Gipfels, denn da beginnt „die grüne Matschhölle“, wie ich diesen Wegabschnitt genannt habe: bei 100 Prozent Luftfeuchtigkeit steigt man…, nein glitscht, stolpert und balanciert unter lianenbehangenen Urwaldriesen einen verschlungenen Pfad hinauf bis zum Kraterrand, um dann wieder ein Stück hinab- und hineinzuklettern, wo – komplett eingerahmt von eben diesem Grad und umkränzt von üppiger Vegetation- schließlich ein fußballfeldgroßer See wartet. Baden? Kann man, da aber das Wasser reichlich trübe ist, hält sich das Vergnügen in Grenzen. Nach einer knappen Stunde Fiesta machen wir uns auf den Rückweg, um rechtzeitig vor Sonnenuntergang wieder „zuhause“ zu sein. Das abendliche sunset watching ist in Inanitah beinahe ein Ritual, denn man schaut hinab auf ein weitgespanntes Landschaftspanorama, das im abnehmenden Licht der Sonne langsam aus der Wirklichkeit driftet: der Spiegel des Sees mit den winzigen Windrädern an seinem Rand; der sich dunkel färbende Himmel, an dem ein paar Wolken wie müde Wanderer davonziehen; der mächtige Kegel des Conception, der in diesen Momenten sein Geheimnis offenbart: die Inkarnation eines strengen, aber gütigen Gottes zu sein. Ja, die Legenden lügen nicht: Ometepe ist ein magischer Ort.
Foto: http://www.inanitah.com/